Nach etwas Pause hier wieder ein Beitrag der Reihe Fysio-Fun-Facts, da wir im Fysiotherapiestudium die Tage das Thema chronischer* aspezifischer* tiefer* Rückenschmerz, Chronifizierung* und zentrale Sensitivierung hatten.
Was im Körper bei Dauerschmerz so passiert, finde ich auf mehreren Ebenen extrem spannend, auch in Bezug auf Bauchtanz.
* Aspezifisch heißt: es ist keine direkte Ursache wie

Rücken in Bewegung
z. B. ein Bandscheibenvorfall, eine Einklemmung oder kürzlicher Unfall vorhanden. Tief im Sinne von Lendenwirbelsäule. Chronifizierung als Begriff für den Übergangsprozess von akut (hohe Wahrscheinlichkeit, dass es demnächst von alleine abheilt) zu chronisch (wird von selbst wohl nicht mehr besser, da die typische Heilungsdauer überschritten ist). Akuter Schmerz ist scharf, stechend, plötzlich vorhanden und auf die wunde Stelle beschränkt. Der Schmerz, der nach dieser ersten Welle auftaucht und dann über lange Zeit anhalten kann, ist in einem größeren Gebiet verbreitet und eher dumpf-quälend. Akuter Schmerz ist ein Signal, dass dank der Schmerzrezeptoren übers Rückenmark Richtung Hirn schießt, während der Schmerz der danach fühlbar wird, vom Körper produziert und bearbeitet wird.
Um es vorsichtshalber ganz deutlich zu sagen: Wenn ihr Rückenprobleme habt, benutzt euren gesunden Menschenverstand, fragt euren Arzt, dies hier ist keine medizinische Beratungsstelle sondern Gedanken einer Studentin.
Wenn der Schmerz nicht weniger wird
Bei Patienten mit dem Krankheitsbild chronischer aspezifischer Schmerz ist es typisch, dass sie von Arzt zu Arzt ziehen auf der Suche nach einer Ursache, aber keine gefunden werden kann – z. B. weil die Ursache nach mehreren Wochen, Monaten, Jahren nicht mehr vorhanden ist.
Aber warum kann der Schmerz bestehen bleiben, selbst wenn es dafür anscheinend keinen Grund mehr gibt? Um das potentiellen Patienten zu erklären habe ich folgende Metapher entwickelt, die zwar komplex, aber ziemlich akkurat ist: Denk an eine intelligente Sprenkleranlage in einem Gebäude. Da gibt es Rauchmelder (=Schmerzrezeptor), die ab einer gewissen Menge Rauch das Signal an die zentrale Steuerung des Feueralarms durchgeben (= Rückenmark, danach stufenweise ins Gehirn), woraufhin die Sprenkler eine bestimme Menge Wasser abgeben, bis das Feuer gelöscht ist (= Schmerzreaktion, Schmerzregulierung; gleichzeitig: Heilungsprozesse, wenn eine Verletzung vorliegt). Es herrscht normalerweise eine gute Balance zwischen Stärke des Rauchsignals und der benötigten Wassermenge. Wenn nun der Feueralarm häufig, heftig und/oder durchgängig ausgelöst wird, entscheidet die intelligente Steuerung, dass die normale Wassermenge für das wachsende Feuerproblem nicht mehr ausreicht, dass also mehr Wasser gebraucht wird, um das stets wieder aufflackernde Feuer zu löschen (= veränderte Schmerzreaktion). Gleichzeitig ist sich das System der Feuergefahr so bewusst, dass die Rauchmelder feiner eingestellt werden, also schon bei einer kleineren Rauchmenge anschlagen um Größeres zu verhindern (=zentrale Sensitivierung). Am Ende dieses Prozesses hat man einen Feueralarm der schon bei einer kleinen Kerze oder Zigarette ausgelöst wird und einen Raum der so häufig und so gründlich durchnässt wurde, dass er gar nicht mehr trocknet und schließlich wegen Schimmel und Moder zunehmend unbewohnbar wird.
Akuter Schmerz läuft von der Zelle zum Rückenmark über Bahnen, deren Signal-Hemmschwelle höher wird, je häufiger das Signal kommt. Bei den Nervenbahnen, die chronischen Schmerz weitergeben, ist es genau anders herum: sie werden stets empfindlicher. Frei nach dem Motto: das gebrochene Bein will nicht heilen,weil der dumme Mensch ständig durch die Gegend flitzt – wir brauchen ein stärkeres Signal, damit der Blöde endlich mal die Füße still hält!
Bis das Schmerzsignal aus der Zelle im Hirn wahrgenommen werden kann, muss es erstmal erfolgreich ins Rückenmark gelangen und später im unteren Teil des Gehirns als wichtig genug eingestuft werden, um weiter gereicht zu werden.
Nicht jedes Signal unserer Sinne nehmen wir bewusst wahr: Wenn wir uns beispielsweise nicht gerade den Zeh stoßen, sind die Informationen aus den Füßen uninteressant genug, um im bewussten Denken ignoriert zu werden, damit wir uns auf andere Dinge konzentrieren können. Wenn wir dagegen einen gebrochenen Zeh haben, werden wir ihn häufiger fühlen weil er a) durch die Verletzung empfindlicher geworden ist und b) weil wir uns des Grundproblems bewusst sind und weiteren Schaden vermeiden wollen. Wenn wir gerade damit beschäftigt waren, vor einer Lawine zu flüchten, haben wir womöglich gar nicht mitbekommen, dass wir den Zeh gebrochen haben, sind damit erstmal weiter gerannt um in Sicherheit zu kommen. Denn wir waren a) abgelenkt und b) haben Stoffe wie Adrenalin dafür gesorgt, dass wir den Schmerz nicht so deutlich wahrnehmen können wie später zuhause.
Ihr merkt vielleicht schon: Schmerz ist komplex und sehr individuell.
Wenn es kein Problem ist, ist es kein Problem mehr
Im Gehirn arbeiten verschiedene Bereiche in einem Funktions-Netzwerk „Schmerz“ zusammen, da gibt es in unserem Schädel als beteiligte Regionen beispielsweise:
- Stammhirn: durchreichen des Signals nach oben ins Hirn und nach unten in zur Ausführung von Reaktionen
- Thalamus: weiterleiten zum sensorischen Cortex, damit das Signal in allen Eigenschaften wahrgenommen wird und weiterleiten zum limbischen System, um es emotional zu erleben
- der sensorische Cortex: die reine Einordnung des hereinkommenden Signals als Sinneswahrnehmung: ist es Schmerz?, wo/was/wie stark
- Insula checkt: besteht eine Bedrohung durch den Schmerz?
- die Amygdala, das Angstzentrum: muss ich sterben?!
- Anteriorer cingulärer Cortex: abgleichen von Informationen über Ort/Stärke/Qualität mit dem emotionalem Schmerzerleben; Ist bspw. wichtig für MitLEID, WeltSCHMERZ, verursacht die Schmerzen eines gebrochenen Herzens oder die Qualen der Einsamkeit. Sorgt zusammen mit der Amygdala und dem Hippocampus (Erinnerung) für das Schmerzgedächtnis
- präfrontaler Cortex, da wo bewusstes Denken und Planen aufgrund von Wahrnehmung, Erleben und Erinnerung stattfindet; steuert also auch das Richten von Aufmerksamkeit.
Um kurz beim letzten zu bleiben: der präfrontale Cortex als höher gelegene Schaltzentrale verknüpft nicht nur die Informationen der anderen Gebiete und interpretiert diese, damit wir schließlich zu einer Entscheidung kommen, wie wir reagieren. Das Resultat seiner Arbeit hat auch stark damit zu tun, was wir als wichtig erachten.
Ein gesunder Optimist wird ein Problem im Alltag als kleines Steinchen auf seinem idyllischen Weg in freundlicher Hügellandschaft ignorieren, während ein depressiver Schmerzpatient dasselbe Problem als unbezwingbare Pässe einer menschenfeindlich dräuenden Gebirgslandschaft erleben kann. Der erstgenannte Mensch wird während des wandelns mit seinem Kopf in anderen Dingen stecken während der Zweite durch ständig auftauchende Probleme von den schönen und erfüllenden Dingen seines Alltags abgehalten wird.
Wie viele andere Teams auch lernt das Schmerznetzwerk im Gehirn, sodass es seine Arbeit stets besser erledigen kann: die Reaktionen werden immer effektiver durch Übung und Abstimmung und immer schneller durch bessere Wahrnehmung dank größerer Aufmerksamkeit für das Problem. Mit der Zeit wachsen die Zellverbindungen im Gehirn in Stärke und Anzahl, die Übertragungsstellen zwischen den Gehirnzellen und zwischen Nerv und Rückenmark passen sich an. Ganze Schaltkreise verändern sich, wie ein Muskel im Training – bzw. im Übertraining.
Gleichzeitig verändert sich chemisch so einiges: die vorhandenen Mengen der körpereigene Schmerzstiller (z. B. Endorphine, Serotonin) bzw. der Schmerzverstärker sowie der Stoffe, die Signale im Körper weiter reichen. Schließlich hat man eine Summe von Veränderungen, die im Blut, in den Organen, anden Zellen etc. sichtbar geworden sind – und die sich nicht mal eben wieder beseitigen lassen.
Und das, obwohl keine Ursache zu finden ist.
Das Thema „was passiert aufgrund der Gehirnprozesse dann im Rest des Körpers“ und den Bereich Schmerzlinderung durch Bewegung klammer ich an dieser Stelle aus, der Text ist schon mehr als lang genug. Kommen wir zum Praktischen.
Was tun bei Dauerschmerz?
Wenn keine Ursache zu finden und daher auch nicht zu beheben ist, bleibt uns Fysios die Option, die Folgen zu behandeln. Denn Schmerz führt oft genug zu Vermeidung und das über längere Zeit zu Verlust an Kraft und Ausdauer wodurch Bewegen, das normalerweise schmerlindernde Effekte hat, noch schmerzhafter und auf Dauer immer anstrengender wird. Ein Teufelskreis.
Das in unserem Studium empfohlene Gegenmittel: Graded Activity – ein geplantes, machbares Pensum an Bewegung regelmäßig komplett absolvieren und zwar unabhängig von der Tagesverfassung und auftauchenden Schmerzsignalen. Man beginnt unterhalb dessen, was man bereits kann und steigert die Aktivität im Laufe der Zeit.
Wenn man immer nur so viel macht, wie der Schmerz zulässt, enden die meisten Patienten in der Situation, dass sie langfristig immer weniger können und machen („Sägezahnphänomen“: der genannte Teufelskreis plus Inaktivität nach Spitzentagen).
Dann hilft nur noch: das Schmerzsignal in die Schranken verweisen. Denn: Wenn nichts gebrochen, gerissen oder sonstwie beschädigt ist (=findbare Ursache), gibt es keinen Grund sich zu schonen.
Graded Activity ist ein bisschen, als hätte man einen Hund, der es gewöhnt ist, bei Tisch zu betteln. Will man es ihm abgewöhnen, muss man die großen Augen und das Winseln konsequent ignorieren. Daher wird bei Graded Activity ein Trainingsplan erstellt, der unterhalb des gewohnten Niveaus ansetzt und dann fordert, das vom Patienten selbst festgelegte Trainingspensum konsequent zu absolvieren, bis der Hund gemerkt hat, dass seine Signale als nicht wichtig erachtet werden und sich das hyperaktive Schmerztierchen neu orientiert.
Bauchtanz? Ich bin begeistert.
In unserem Fysio-Unterricht war meist die Rede von Aktivitäten, die für den Patienten im Alltag am wichtigsten sind, z. B. die Treppe innerhalb des Hauses gehen zu können oder es wieder bis in den Supermarkt schaffen. Also Menschen, die im Normalfall nicht (mehr) im Bauchtanzkurs mitmachen.
Jedoch haben wir recht viele Menschen in den Kursen, die mit „Rücken“ zu tun haben. Oder haben selber das eine oder andere Problem, das uns vom Tanzen abhalten will.
Bauchtanz ist je nach Ausführung ein prima Training oder eine schonende Bewegungsform, bei der Haltung, Beweglichkeit, Ausdauer, etc. trainiert werden können. Schmerzpatienten ziehen sich oft zurück und geraten zunehmend in soziale Isolation wo sie vom Schmerz gequält werden. Bauchtanzunterricht dagegen ist eine niedrigschwellige Gruppenaktivität, die viel Spaß machen kann. Zum Tanzen selbst kommen noch die Möglichkeiten, sich sitzend mit Bauchtanz zu beschäftigen (Lehr- oder Auftrittsvideos schauen, Artikel lesen, Rhythmen üben).
Ich finde es daher sowohl als Bewegungsprogramm wie auch als mögliche psychosomatische Zusatztherapie interessant.
Angesicht meines Rants im vorigen Artikel habe ich noch kurz auf PubMed geschaut: Das Thema Bauchtanz als Schmerztherapie ist dort nicht gemeldet und zwei aktuelle Reviews zum Thema Tanz und Fibromyalgie (anderes Krankheitsbild, ja, hat aber auch mit zentraler Sensibilisierung zu tun, daher werfe ich es hier mit in den Topf) kommen zu dem Schluss, dass es bisher noch wenige, uneinheitliche Studien gibt, das Feld aber stets mehr an Interesse gewinnt.
Habe ich da gerade ein Thema für meine Bachelorarbeit gefunden?!
Was wissen wir über Tanz bei Fibromyalgie?
Effekte von Tanz auf Schmerz bei Fibromyalgie
Wer sich mit dem Lesen von wissenschaftlichen Studien nicht auskennt: guckt als Erstes in der einleitenden Zusammenfassung unter „Conclusions“ nach dem Fazit, „Methods“ beschreibt was gemacht wurde.