Ein Video, das ich gerade auf Facebook gesehen habe, hat mir gerade den Tritt gegeben, was zu einem Thema zu schreiben, das mir seit kurzem vermehrt durch den Kopf geht. Schuld ist ein Buch, das mir eine Freundin ausgeliehen hat – ZUM GLÜCK!
Im Video geht es um Selbstakzeptanz, gerade was Frauen und ihren Körper betrifft, um medialen und gesellschaftlichen Druck von außen, und die Frage, ob wir uns hassen oder lieben wollen. In diesem schönen emotionalen Film geht es um eine Frau, die ihren Körper gehasst hat, ihn erfolgreich nach allen Regeln der Kunst zum Objekt der wahrgenommenen Ideale geformt hat, damit nicht glücklich war und zum Schluss gekommen ist, statt diesen Idealen hinterher zu rennen, lieber gelassen und entspannt Zeit und Aufmerksamkeit für ihre Familie und ihr reales Leben zu haben. Mit einem in der heutigen Zeit aufsehenerregend ungewöhnlichen Vorher (fast-Bodybuilderin) – Nachher (stark pummelige Frau) – Bild ging ihre Geschichte durch die Medien und es kam letztlich zu einem Video, das starke Botschaften von Fat Acceptance trägt.
Können wir bitte mal Selbstliebe und Figur trennen?
Ich habe selber eine längere Reise mit mehrfachen Ernährungsumstellungen hinter mir, hatte einen adipösen BMI, habe als Übungsleiterin im Breitensport mit einer „Fit in XXL“-Gruppe die Fahne des „Input minus Output gleich Gewicht, so einfach ist das nicht“ hochgehalten und Verständnis für die veränderte Leistungsfähigkeit dicker Menschen geübt, mit dem Ziel, Freude an Bewegung zu vermitteln. Ich liebe mich, ich liebe meinen Körper – von allen publizierten Körperidealen und von meinem persönlichen, nicht ganz so drastischen Ziel, bin ich meilenweit entfernt. Noch.
Denn dann kam DAS BUCH, das schon erwähnte (KAUFT ES EUCH! VERLEIHT ES! VERBREITET ES!): „Fettlogik überwinden“ von der Psychotherapeutin Nadja Hermann. Aufgrund von akuten, ernsthaften Knieproblemen bei knapp 150 kg hat sie sich hochmotiviert durch den Diät-Ratschläge-Dschungel geschlagen. „Fettlogik“ ist hier der Sammelbegriff für alle Erklärungen, Legenden und weitervermitteltes Alltagswissen zum Thema Übergewicht und Abnehmen – die hier auf den wissenschaftlichen Prüfstand gestellt werden. Dabei wird so einiges Altvertrautes radikal über Bord geworfen, weil in vielfachen Studien mit tausenden Probanden widerlegt, z. B. die Legende vom kaputten oder anzukurbelnden Stoffwechsel, der Mythos Jojo-Effekt oder dass 95% aller Abnehmwilligen scheitern.
Starker Tobak, aber für mich sehr, sehr befreiend. Weil es mir klar macht, dass ich nicht fettes Opfer einer Schilddrüsenunterfunktion bin und bleiben muss oder warum die Waage so verrückte Sprünge macht, dass ich nur noch mit absurd-verrückten Lachen reagieren kann… Tatsächlich sind die Effekte einer Unterfunktion absolut händelbar – bis sie behandelt ist und damit aus der Gleichung fällt.
Ich komme also zu dem Schluss: Input – Output = Gewicht stimmt, es ist so simpel – aber das heißt noch lange nicht, dass es einfach ist oder ich diese Erkenntnis auch zu einem früheren Zeitpunkt meiner Lebensreise angenommen hätte.
„Gesundes“ Übergewicht
Ein weiterer Fettlogik-Mythos, der im Buch unter die Lupe genommen wird, ist, dass man als leicht Übergewichtige länger lebt. Stimmt anscheinend nur, solange man Raucher und chronisch Kranke (die aufgrund ihrer Krankheit von deutlich höherem Startgewicht ins Normalgewicht gerutscht sind und zum Tode siechen) mitzählt. Hermann dröselt eine erschreckend große Zahl von Krankheitsbildern auf, die bei starkem Übergewicht überproportional häufig auftreten bzw. auf hohe Fettmasse zurückzuführen sind und kommt zum Fazit, dass ein BMI von 21 oder leicht darunter der Idealfall ist. Ein erhöhtes Krankheitsrisiko gilt übrigens auch für inaktive Menschen im oberen Normalgewicht, die sogenannten „Skinny Fat“.
Fazit: wir sind so an Übergewicht gewöhnt, dass wir medinzinisch korrekt als normal bezeichnete Menschen schon als dünn wahrnehmen. Noch ein RUMMS! für die innere Wahrnehmung der Umwelt.
Mir persönlich gefällt ein sportlicher BMI von 22/23 am Besten, und euch? Fühlt sich fast wie Shopping an, sich die Bilder auf diese Weise anzuschauen…
Wie gesagt: wenn ihr vielfach geprüfte und gegengeprüfte Fakten, die für Jedermann verständlich zusammengefasst wurden, lesen möchtet, die allerdings mit vielen vertrauten Regeln brechen, ist das Buch die dringende Empfehlung an euch. Aufgelockert ist das Ganze mit kleinen Comics, die wunderbar aufrüttelnd den Spiegel vorhalten – ja, die Autorin ist auch die Frau hinter den Erzählmirnix-Comics.
Zurück zum Thema Fat Acceptance.
Wenn 2/3 der deutschen Übergewichtig sind, dass sie dadurch ein erhöhtes Krankheitsrisiko haben, und davon knapp die Hälfte dank starken Übergewichts ein überproportional erhöhtes Krankheitsrisiko mit entsprechend verkürzter Lebenserwartung hat, ist es dann an der Zeit, Menschen mit Parolen wie „Big is beautiful“ oder „Health at every size“ oder „Nur Hunde spielen mit Knochen“ in einer „dick aber schick“-Identität zu bestärken? Unsere Wahrnehmung so anzupassen, dass wir eine Figur mit erhöhtem Krankheitsrisiko als ebenso attraktiv propagieren? Aber ich schweife ab…
Ich finde es klasse, dass die Frau aus dem Eingangs genannten Video nun zufrieden mit sich und ihrem Leben ist. Das finde ich wunderbar. Die Botschaft von „schaut, wie viel glücklicher ist sie doch mit entspanntem Übergewicht statt des stressenden Abnehm-und-Sport-Wahns“ finde ich mittlerweile hinterfragungswürdig.
Ich finde es super, dass wir im Bauchtanzunterricht eine offene Akzeptanz jeder Frau egal welcher Figur predigen. Denn die Figur definiert nicht den Menschen. Und jeder Mensch, egal wie zufrieden mit sich, seinem Leben oder seiner Figur, braucht einen sicheren Ort, einfach mal allen Druck abzuschütteln und in netter Gesellschaft das Leben zu genießen. Das erleben viele Frauen gerade im (Breitensport)-Bauchtanz, das finde ich absolut klasse. Und es freut mich als Kursleiterin enorm, wenn ich das miterleben oder sogar hervorlocken kann.
Wir müssen nicht fremden Idealen nachrennen, uns verbiegen, um anderen Menschen zu gefallen. Wir müssen uns selber gefallen.
Aber: Wir sollten echte Fakten zum Thema Ernährung und Gesundheit im Kopf haben, statt uns von Diätindustrie und Lebensmittelindustrie in den Teufelskreis von „iss, was du willst, kauf noch mehr von unserem leckeren Zeug und hier ist noch das Mittelchen gegen die Folgen“ den Kopf verdrehen zu lassen.
Ich finde es super, durch das Buch das Gefühl zurück bekommen zu haben, auf meine Figur tatsächlich einwirken zu können. Einige rätselhafte Phänomene, Lücken in meinem persönlichen Puzzle an Körperwissen wurden geschlossen. Das ist echte Selbstwirksamkeit, echtes „Empowerment“. Statt aufgesetzter Schick-in-dick-Floskeln ein echtes, von innen kommendes Selbstbewusstsein, das hilft, absurden Manipulationen Stand zu halten.
Daher die Bitte: trennt Selbstliebe und Selbstakzeptanz von Silhouette. Lasst nicht die Unglücklichen im Regen stehen, die zufällig nicht fett sind und daher nicht mit „big ist beautiful“-Parolen gestreichelt werden.
Wer mit sich und seinem Leben nicht zufrieden ist, wird nicht plötzlich aller Probleme befreit sein und glücklich bis ans Ende ihrer Tage sein, nur weil man den „perfekten Körper“ hat – wie das Video so eindrucksvoll wie unabsichtlich zeigt.
Für ein gesünderes Leben mit geringerem Krankheitsrisiko und für mehr Selbstliebe, egal bei welcher Figur.
Hallo Sandra, das Buch scheint Dich ja wirklich beeindruckt zu haben 🙂
Freut mich sehr, denn diesen großen Aha-Effekt habe ich ebenfalls erlebt. Es ist irgendwie befreiend, zu wissen, dass man selbst, und zwar ausschließlich man selbst, das eigene Gewicht bestimmt. Das macht mündig.
Ich habe übrigens auch eine Rezi zum Buch verfasst, und zwar in meinem Online-Magazin:
http://www.nrw-alternativ.de/2016/08/04/dr-nadja-hermann-fettlogik-%C3%BCberwinden/
Hasbe ich Dir eigentlich schon zu Deinem Blog gratuliert? Ist nicht meine Thematik, aber super gemacht und sauber geschrieben 🙂